Das ist ein Reblog des am 11.11.2018 publizierten Artikels von Parlograph, der als Ergänzung zu den hessischen Frohnaturen auf Egotrip gelesen werden kann.
Das Buch mit allen Posts von Parlograph gibt es ebenfalls, und zwar kostenlos für alle.
Einen schönen Sonntag auch den Leseratten unter den Blogklickerern.
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Chef d’Ilot: Sind Sie wahnsinnig geworden, Madame Bouffier?! Immer nur Sie und Ihr Haus stören die Ordnung. Heute aber ist es das letzte Mal. Ich sollte Sie auf der Stelle verhaften.“
„Jacobowsky und der Oberst“, Franz Werfel
Live Escape Games sind ein teurer Spaß, der eine Stunde dauert. Hessens Volksvertreter mühten sich fast vier Jahre am Temme-Rätsel ab. Vergeblich. Zwölf Jahre nach der Tat in Kassel und einem dicken Abschlußbericht steht der nächste Ausschuß mit leeren Händen da: man weiß nichts, schließt nichts aus und kann nichts beweisen. Nach Parteifarben getrennt waren sie marschiert, um vereint die Zeit zu erschlagen. Zum Glück standen Halit Yozgats Mörder fest durch Beschluß.
Kein Dönermord hat die Phantasie des Publikums erregt wie das Verbrechen im Internetcafé. Klein-Adolf der Verfassungsschützer, V-Islamisten und Nazispitzel, das plötzliche Ende der Mordserie und 120 Jahre amtlich verordnetes Schweigen. Was für ein Stoff! Wer es nur richtig anstellt, sollte endlich die losen Fäden zusammenbinden können. Abgeordneter Schwarmverstand scheiterte indes nicht nur am Behördenstaat, sondern auch am Mordfall selbst: am Tatort, den Zeitfenstern, fünf Zeugen und drei Affen: nichts sehen, nichts riechen, nichts hören – jedenfalls keine zwei Schüsse. Vor allem aber an Andreas Temme.
Und noch eine schlechte Nachricht: Rettet der NSU ex machina die Parlamente, müssen seine Leugner auf Trost ganz verzichten. Kein Anfasser für alternative Hypothesen nirgendwo im Bericht: Bouffier und Hessen-VS entlastet, Polizei und Staatsanwaltschaft alles versucht und richtig gemacht.1) So scheint es. Kein Tiefer Staat, keine klandestine Vertraulichkeit in Korrespondenzen und Vermerken; Schlußstrichforderungen nun auch bei „Leakers“.
Wenn es Polizist Binninger nicht schaffte, Verschwörungstheorien durch das Märchen vom Groß-NSU zu deckeln, dann gelang es den Hessen durch Ergebnislosigkeit. Wobei „düstere Parallelwelten“ oder Yimpas-Pleite wie üblich tabu bleiben mußten, glaubt man dem rassismusfreien Abschlußbericht.
Knallgeräusche
Und Temme? Seit zwölf Jahren hält er unter ungeheuerem Druck von allen Seiten an einer Geschichte fest, die ihm niemand abnimmt. An ihn klammert sich das ganze Versagen einer unaufgeklärten Verbrechensserie, und doch würde Temme auch unter Folter wohl nichts anderes erzählen. Fast resigniert muß der Ausschuß zur Kenntnis nehmen:2)
Kein polizeilicher Zeuge hat jedoch, trotz aller Bedenken, ausschließen können, dass Temme die Wahrheit sagt.“
So ist das – trotz des tiefen Mißtrauens, daß Temme, wenn er schon nicht lügt, dann jedenfalls nicht alles sagt, denn alles scheint möglich bis heute; vom „Abtarnen“ der Uwes und türkischen Wölfen, schnöder Panik bis unterlassener Hilfe.3)
Und so feilschten die Volksvertreter um Sekunden und hängen trotzdem fest und es gilt der hessische Konjunktiv Irrealis:4)
Solange nicht feststeht, ob Temme noch in dem Internetcafe war, als Halit Yozgat erschossen wurde, führen Erörterungen darüber, ob er Wahrnehmungen hätte machen müssen, wenn er dort gewesen wäre, nicht weiter. Dies gilt unabhängig davon, welcher der beiden Möglichkeiten als die wahrscheinlichere angesehen wird. Es kann deshalb nicht festgestellt werden, ob Temme etwas von dem Mord mitbekommen hat. Das heißt auch: Kein denkbares Szenario ist ausgeschlossen.
Nur, was folgt aus den vielen schönen „denkbaren Szenarien“? Daß nach der „Pilling-E-Mail“ Temme den Gärtner anrief und die Uwes prompt nach Kassel reisten, um Yozgat zu erschießen?
Trotz Geraune scheuen sich aber selbst eingefleischte VS-Hasser, Temme offen eine Tatbeteiligung anzudichten. Mit Konsequenz: Relevant ist, ob Temme etwas über den Täter sagen kann, ob er als Einziger die 137-db-Schüsse hörte, schallgemindert zwar, und ob er den Täter sah bzw. sehen konnte. Letzteres schloß die Polizei für seine Sitzposition am Rechner aus:5)
Die Frage, ob Temme die Mörder hätte sehen müssen, ist zu verneinen. Nach Aussage der im Ausschuss vernommenen Mitglieder der MK Cafe habe man von PC Nr. 2 des Temmes aus nur in den Vorraum schauen können, wenn man sich zur Seite neigte bzw. „verrenkte“, und auch dann habe man nur „einen Spalt breit“ bzw. „einen ganz schmalen Bereich“ des Vorderraums einsehen können.“
Alles andere, selbst ob er in Richtung Ausgang gehend doch nach links zum Schreibtisch schaute, um zu bezahlen, und den sterbenden Halit ignorierte, ist für die Aufklärung des Mordes sekundär. Läßt man Temme ganz weg, fehlen immer noch zwei Schüsse, von denen niemand Notiz nahm und direkt daneben telefonierte Faiz Hamadi Shabab seelenruhig weiter.
Halbleiter
Seit Jahren schon fragt der AK NSU, was daraus zu schließen sei und muß sich doch von einer charmanten Hypothese verabschieden, die dieses Problem lösen soll: dem vorverlegten Mordanschlag. Denn kurz vor der Tat, so der Abschlußbericht, surft Halit nach Halbleitern an seinem PC.
Bleibt die „leisere“ Waffe, die dann zwar keine Ceska ist, aber dafür zu dezent „platzenden Luftballons“ paßt. Allerdings: Zeitabläufe macht sie nicht plausibler und Temme fällt als Schußzeuge weiter aus. Auch an der Alternative ändert sich nichts: Ein vorher aus dem Internetcafé kommender Temme wäre für den Killer Warnung vor weiteren möglichen Zeugen im Café gewesen und Hemmnis bei Ausführung der Tat.
Für die nächstliegende Schlußfolgerung; wenn niemand Schüsse hörte, dann fielen keine, ist anscheinend niemand mehr frivol genug und das hieße ja auch, die ganze Republik wurde böse zum Narren gehalten wie bei der Selbstenttarnung des NSU in Eisenach.6)
Und Temmes V-Leute? Da wenigstens schafft der Ausschuß Klarheit:7)
Laut einem Gesprächsvermerk der MK Cafe vom 1. September 2006 sprach der Geheimschutzbeauftragte des Landesamts für Verfassungsschutz, der Zeuge Hess, anlässlich dieser Besprechung abermals Kompromissmöglichkeiten im Hinblick auf die Vernehmungen der von Temme geführten V-Personen und in diesem Zusammenhang erneut die Vernehmung der V-Leute unter einer Legende an. Außerdem habe die Polizei auf Nachfrage klargestellt, dass Anhaltpunkte für die Täterschaft einer V-Person, die unabhängig von einer Beteiligung Temmes an der Tat beteiligt sein könnte, nicht bestünden.
Das Theater um Bouffiers Sperrerklärung war also doppelt überflüssig: Die Staatsanwaltschaft konnte nicht begründen, was sie sich von der Befragung erhoffte und wichtiger war als Quellenschutz, und der jahrelang schwelende Verdacht, Temme habe V-Mörder geschützt, ist vom Tisch. Das dürfte nicht nur seine Islamis betreffen, sondern auch Gewährsperson Gärtner. Nur, und hier hat die herbe Ausschußkritik am informellen BKA-VS-Treffen recht, gilt das für Zuträger aller V-Mann-Führer?
Welche Dynamik wäre entstanden, hätten Ermittler die Pilling-Mail gekannt? Daß der Verfassungsschutz fürchten mußte, Pillings Gefälligkeit könnte zum Bummerang werden, ist nachvollziehbar. Aber informierte denn BKA-Hoppe die Kasseler Kollegen und Nürnbergs BAO über seine Aktivitäten, nachdem ausgerechnet in Hessen nicht nur ein weiterer Ceskamord geschieht, sondern Pillings Mitarbeiter unter Tatverdacht gerät?
Perfektes Timing
Nach dem Mord in Kassel will das BKA eine feindliche Übernahme der Ermittlungen. Der Vorstoß mißlingt und – auch das ist so eine Koinzidenz – die Ceskaserie endet, während Dönermorde mit ähnlichem Modus operandi bis heute weitergehen. Erste Diskussionen gibt es laut Hoppe schon am 6. April 2006;8) da ist die Bestimmung der Tatwaffe im Mordfall Yozgat noch Hellseherei. Oder wurde intern schon früher „diskutiert“, mindestens vor Kontaktaufnahme zum hessischen Verfassungsschutz?9)
Unmittelbar nach dem Mord an Halit Yozgat, bei Besprechungen am 10. April 2006 in Kassel und am 11. April 2006 in Nürnberg, sprach das Bundeskriminalamt die Möglichkeit einer Gesamtübernahme der Ermittlungen nach § 4 Abs. 2 N r. 2 BKAG an. Dem Leiter der EG Ceska zufolge hatte es sogar bereits erste Diskussionen bei einer Besprechung in Dortmund am 6. April 2006 gegeben.
Der Mord kommt also wie gerufen, um BKA-Ambitionen Nachdruck zu verleihen. Praktischerweise legen damals auch BKA-Kriminaltechniker fest, was Ceskamorde sind. Scheiterten hessische Ermittler wie andere an der vorgegebenen fixen Idee einer Serie? Das verbindende Motiv für alle Morde fanden zumindest auch sie nicht. Vielleicht, weil es das so wenig gab wie übereinstimmende Tatortspuren.
Für Andreas Temme und seinen Alibinachweis ist das Glück im Pech, er erhält Pardon und ein Gnadenbrot im Apparat. Ceska-Ermittler Hoppe wechselt später ins Referat SO12. Das sichtet Anfang 2012 jene brisante KiPo-Kundendatei, auf der sich der Name Sebastian Edathys befindet. Der selbstbewußte Sozialdemokrat ist da frischgebackener Vorsitzender eines NSU-Untersuchungsausschußes.10)
Dazu muß man wissen: Früher war so ein NSU-Ausschuß eine aufregende Sache und noch kein bloßer Zeitvertreib und frei zugängliche Wortprotokolle gab’s nachher auch.
Fußnoten
1) Ob Bouffier das Parlament angelogen hat oder Temmes Vorgesetzte Dienstvergehen zu lässig handhabten, ist hier nicht von Interesse.
2) Abschlußbericht, PDF-Seite 412
https://hessischer-landtag.de/content/abschlussbericht-des-untersuchungsausschusses-192-nsu-beschlossen
3) Vgl. Kriminaldirektor Hoffmann:
„Der war für uns, ich sage jetzt mal ganz platt, wie ein Stück Seife. Immer wenn ich den greifen wollte, war er weg. Also er hat auch nie konkret die Fragen beantwortet, die wir gestellt haben, oder ist den Fragen ausgewichen.“
PDF-Seite 1065
vgl. auch Abschlußbericht, PDF-Seite 412
4) PDF-Seite 745
5) PDF-Seite 407
https://sicherungsblog.files.wordpress.com/2015/06/karschunke.jpg
7) PDF-Seite 522
8) Mehmet Kubaşık wurde am 4. April 2006 in Dortmund erschossen.
9) PDF-Seite 558
Bildnachweis
Tatortbegehung mit Andreas Temme,
Foto: Polizei Hessen