Dossier zur Nachrichtenehrlichkeit der deutschen Presse 2011 bis 2014
von
Dr. Andreas Müller
Email: buerger@hintermbusch.de
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Einleitung
Es wird in letzter Zeit viel geklagt darüber, dass die Medien in Deutschland einseitig, parteiisch oder gar grob irreführend berichten würden über die großen Themen der Welt. Und das täten sie, weil sie entweder gekauft seien oder von staatlichen Stellen dazu genötigt würden. Mithin sei die Freiheit der Presse nicht viel mehr als eine Schimäre. Ich muss zugeben, dass ich mir schon länger den einen oder anderen Gedanken dazu gemacht habe. Einerseits gibt es Anlass für den Verdacht, dass deutsche Medien gelegentlich die Bürger unisono falsch informieren. Andererseits ist schwer vorstellbar, wie zahlreiche Redaktionen zentral gesteuert werden sollten, damit sie nicht etwas Abweichendes berichten. Abweichler gibt es wohl immer, aber können sie zum Beispiel eine Mehrheit der Bürger dazu bringen, eine wichtige Lüge zu erkennen, wenn 90 oder gar 95% ihrer Kollegen so tun, als hätte es nie eine Lüge gegeben und wenn doch, dann nur eine bedeutungslose?
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Wenn man die Sache empirisch untersuchen will, hat man es zunächst mit dem Problem zu tun, dass bei den großen Themen der Welt Lüge und Wahrheit selten wie schwarz und weiß auseinander zu halten sind, sondern eher wie dunkelgrau und mittelgrau, denn vieles ist einfach Ansichtssache. Statt die großen Themen der Welt muss man sich also eine Tatsache vornehmen, die sich innerhalb überschaubarer Zeit eindeutig als wahr oder falsch herausstellen kann. Damit viele Zeitungen über die Sache berichten, muss sie zu allem Überfluss auch noch wichtig sein. Wenn diese beiden Voraussetzungen erfüllt sind, sollte es kaum noch vorkommen, dass man die Mehrheit der Zeitungen dabei erwischt, wie sie eine offenkundige Lüge unter den Teppich kehren oder gar durch eigenes Zutun unterstützen, oder doch?
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Nur ganz, ganz selten kommt es vor, dass so ein außergewöhnliches Lügenexemplar, beinahe wie eine totale Sonnenfinsternis, mitten in unserem Leben auftaucht und für sehr viele Menschen plötzlich eindeutig erfahrbar wird und ihre Weltsicht verändert. Dann ist für den Forscher der Moment gekommen, eilig seine Instrumente auszupacken und aufzuzeichnen, wer diese Sonnenfinsternis gesehen und benannt und wer sie buchstäblich auch im Dunkeln noch geleugnet hat. Wie sich eine solche mediale Sonnenfinsternis im Jahr 2011 erstmals angekündigt hat, und wie es im Frühjahr 2014 tatsächlich stockfinster wurde, zeigt das nächste Kapitel.
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Untersuchungsgegenstand und Kontext
Die folgende Zeitleiste gibt die wichtigsten Eckdaten im Ablauf der Ereignisse vom November 2011 wieder, im Zuge derer der sogenannte „NSU“ als Terrorzelle identifiziert wurde:
4.11.2011 | Zwei zunächst unbekannte Männer werden in Eisenach-Stregda bei der Fahndung nach 2 Bankräubern tot in einem ausgebrannten Wohnmobil gefunden |
5.11.2011 | Die beiden Toten werden offiziell als Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos identifiziert |
8.11.2011 | Beate Zschäpe, die dritte Person des mutmaßlichen Trios, stellt sich in Jena |
7.11.2011 | Die Ermittlungsbehörden (und dann natürlich auch die Zeitungen) berichten, dass bei den beiden Toten die Dienstwaffe der 2007 in Heilbronn ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter gefunden worden sei |
11.11.2011 | Die Behörden und dann auch die Zeitungen berichten, dass im Unterschlupf des Trios die Ceska gefunden worden sei, mit der über 6 Jahre hinweg 9 Ladenbetreiber ausländischer Herkunft in ganz Deutschland ermordet worden seien |
21.11.2011 | BKA-Chef Jörg Ziercke bestätigt zusammen mit weiteren hochrangigen Vertretern der Ermittlungsbehörden vor dem Innenausschuss des Bundestages die These vom Doppelselbstmord in Stregda und stützt sie durch die Behauptung, dass der Gerichtsmediziner in der Lunge von Mundlos Rußpartikel vom Brand des Wohnmobils gefunden habe, in Böhnhardts Lunge dagegen nicht |
22.11.2011 | Der Deutsche Bundestag nimmt einstimmig einen Entschließungsantrag an, dass die „jetzt bekannt gewordenen Zusammenhänge“ korrekt und folglich die Täter der Ceska-Serie und des Kiesewetter-Mordes jeweils dieselben Rechtsradikalen (also Mundlos und Böhnhardt, Anm. des Autors) seien. |
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Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass der Entschließungsantrag vom 22.11.2011 rein auf der Basis von Aussagen angenommen wurde, die die Vertreter der Ermittlungsbehörden in den gerade mal gut 2 Wochen davor gemacht hatten. Die Abgeordneten haben sich dabei offensichtlich darauf verlassen, dass diese Aussagen korrekt waren, denn eine Überprüfung durch Aktenstudium oder Zeugenaussagen war in dieser Zeit sich überschlagender Meldungen nicht möglich. Schließlich ist diese im Spätherbst 2014 auch nach 3 Jahren Ermittlung und 18 Monaten Gerichtsverhandlung noch keineswegs abgeschlossen, sondern soll nach der jüngsten Ankündigung bis 2016 dauern.
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Die Ziercke’sche Aussage vom 21.11.2011 zum Selbstmord der beiden mutmaßlichen Haupttäter hatte für den Folgetag nicht nur wegen der zeitlichen Nähe eine entscheidende Bedeutung. Fortbestehende Zweifel am Selbstmord der beiden hätten es dem Bundestag unmöglich gemacht, diesen Entschließungsantrag einstimmig anzunehmen. Denn zunächst einmal wird der Selbstmord als Schuldeingeständnis gewertet (Stichwort: „Selbstenttarnung des NSU“). Andererseits hätte ein weiterbestehender Mordverdacht die Rechtsradikalen selbst zu möglichen Opfern gemacht und deutlich gezeigt, dass weitere Mörder noch nicht bekannt waren, der Fall also nicht annähernd ausermittelt sein konnte. Der weitreichende Entschließungsantrag der Bundestagsfraktionen für den 22.11.2011 hätte also unangemessen erscheinen müssen. So kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Behauptung von BKA-Chef Ziercke vom 21.11.2011 für den Gang der Ereignisse eine große Bedeutung hatte.
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Bitte machen Sie sich klar, dass der Entschließungsantrag an sich höchst ungewöhnlich war, weil hier die Legislative unter dem überwältigenden Eindruck von einseitigen Bekanntmachungen der Exekutive und mit großem symbolischen Gewicht ein Präjudiz in einer Frage getroffen hat, die strenggenommen einem Strafverfahren vorbehalten bleiben muss. Nicht nur Nörgler könnten versucht sein, den Vorgang als Ende der Gewaltenteilung in Deutschland zu brandmarken. Tatsächlich stellt der Entschließungsantrag des Bundestages eine schwere Hypothek für das erst 2013 vor dem Oberlandesgericht in München begonnene Strafverfahren dar. Trotz eines immensen Aufwands und unzähliger Zeugenvernehmungen ist es dem Gericht bisher nicht gelungen, die im November 2011 im Schnellverfahren und auf der Basis von Treu und Glauben getroffenen Vorverurteilungen ordentlich zu beweisen. Für ein Strafverfahren, dessen Kernvoraussetzung bereits im November 2011 geklärt zu sein schien, ist das ein sehr beunruhigender Zustand.
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Umso schlimmer ist es, dass im Frühjahr 2014 die Rußlungen-Behauptung von BKA-Chef Ziercke eindeutig widerlegt und als Lüge entlarvt wurde:
31.03.2014 | Die Vorsitzende des Untersuchungsausschusses des Thüringer Landtags, Dorothea Marx, zitiert aus den Akten der Gerichtsmedizin, dass in keiner Lunge Rußpartikel gefunden worden seien1 |
21.05.2014 | Der Gerichtsmediziner, der die Obduktion durchgeführt hatte, widerlegt die Rußlungen-Behauptung vor dem OLG München und bestätigt damit Dorothea Marx |
16.07.2014 | Der Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtags äußert in seinem Abschlussbericht als erste offizielle Stelle Zweifel an der Selbstmord-These |
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Am 21.11.2011 hatte sich Ziercke ausdrücklich auf die Ergebnisse der Obduktion berufen. Diese hatte bereits am 5.11.2011 stattgefunden und die Ergebnisse lagen den Behörden vor. Sie wurden also nicht erst am 30.3.2014 entdeckt, sondern bis zu diesem Zeitpunkt der Öffentlichkeit vorenthalten. Man muss deshalb zwingend davon ausgehen, dass seitens der Behörde kein Versehen, sondern volle Absicht hinter der Falschinformation und ihrer anschließend mehr als 2-jährigen Vertuschung standen.
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Unter diesen Voraussetzungen ist es eine höchst interessante Fragestellung, geradezu ein Lackmus-Test, wie die Presse als sogenannte 4. Gewalt im Staat diese Angelegenheit 2011 und 2014 berichtet hat. Bei der Klärung dieser Frage mit einer Durchsicht zahlreicher Online-Zeitungsberichte werden, quasi nebenbei, auch die entscheidenden Sachverhalte zum 21.11.2011 und 21.05.2014 vielfach belegt werden. Diese habe ich bisher selbst nur behauptet und Sie, liebe Leser, haben sie mir hoffentlich nicht ohne ein Minimum an Überprüfung und Plausibilisierung einfach so fahrlässig geglaubt, wie der Bundestag 2011 Herrn Ziercke geglaubt hat.
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1 In derselben Befragung hatte der Tatortzeuge Polizeidirektor Menzel das Rußlungen-Argument erneut herangezogen, um den Selbstmord der beiden mutmaßlichen NSU-Mörder zu untermauern.
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Der Streifzug durch die Presse
Methodik
Diese Untersuchung konzentriert sich auf die Berichterstattung der Medien zu 2 Schlüsselereignissen der obengenannten Vorgänge:
- Die Bekanntgabe des Selbstmords und des Rußlungen-Arguments am 21.11.2011 vor dem Innenausschuss des Bundestags
- Die endgültige Widerlegung des Arguments vor Gericht am 21.05.2014, exakt 30 Monate später, ersatzweise auch die vorangegangene im Thüringer Landtag am 31.03.2014
Sie will dem Leser die Texte an die Hand geben, mit denen er selbst bequem die Ereignisse nachvollziehen und die Qualität der journalistischen Arbeit bewerten kann.
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Dabei habe ich ausschließlich im Internet verfügbare Online-Versionen der aufgeführten Zeitungen genutzt. Insbesondere bei kleineren Zeitungen muss also berücksichtigt werden, dass auf bedrucktem Papier evtl. auch dann Artikel veröffentlicht wurden, wenn sie online nicht oder nicht mehr auffindbar sind. Diese konnte ich aus Aufwandsgründen aber nicht sichten. Die gefundenen Beiträge werden jeweils mit einer URL und einem als Grafik eingebundenen Textausschnitt vorgestellt. Für die Bewertung der Texte können zum Beispiel folgende Kriterien sinnvoll sein:
- Ist das Rußlungen-Argument von Zierke korrekt und auch in seiner Bedeutung für die Selbstmord-These wiedergegeben?
- Wird beides, die These und das Argument, in Text und Überschrift klar als Behauptung des BKA kenntlich gemacht oder wie eine Tatsache berichtet?
- Wird Zierckes Behauptung zusätzlich vom Redakteur unterstützt oder werden auch Tatsachen berichtet, die gegen die Darstellung sprechen?
- Wird in der Berichterstattung zur Gerichtsaussage des Gerichtsmediziners seine Aussage deutlich berichtet, dass in beiden Lungen keine Rußpartikel gefunden wurden?
- Wird der Stellenwert dieser Tatsache im Kontext der Ereignisse und für die Bewertung der Vorgänge am Tatort hinreichend eingeordnet?
- Nimmt der Artikel Bezug auf die Aussage von Ziercke am 21.11.2011 und macht dadurch deutlich, dass es sich dabei um eine eindeutige Lüge gehandelt hat?
- Oder lenkt der Artikel davon ab, indem er anderes in den Vordergrund stellt?
- Entstellt der Artikel evtl. sogar die Aussage des Gerichtsmediziners, um mit ihr Vermutungen zu bekämpfen, die im Bericht derselben Zeitung zum 21.11.2011 gar nicht diskutiert wurden?
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Diese Fragen und meine eigenen Kommentare zu den Originalberichten sind nicht erschöpfend und auch nicht der Weisheit letzter Schluss, sondern nur eine Anregung. Die Originalartikel sprechen in der Zusammenschau aus meiner Sicht so sehr für sich, dass man sich auf ihre Wirkung verlassen kann.
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Die Süddeutsche Zeitung
Zur Bekanntgabe des Rußlungen-Arguments findet man unter
vom 22.11.2011 folgenden Text:
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Die entscheidende Behauptung Zierckes ist in dem Text durch indirekte Rede deutlich als solche gekennzeichnet. Ihre Bedeutung für die Selbstmord-These ist ebenfalls klar erkennbar.
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Eigentlich waren also alle Voraussetzungen vorhanden, mit denen am 22.05.2014 hätte erkannt werden können, was sich am Vortag im Gerichtssaal ereignet hatte. Unter
http://www.sueddeutsche.de/politik/nsu-prozess-drei-schuesse-am-schafrain-1.1971537
berichtet die Süddeutsche Zeitung dazu:
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Die Überschrift „Drei Schüsse am Schafrain“ stellt plakativ eine Polizeiaussage in den Vordergrund, bevor „Gerüchte und die Mutmaßung“ deutlich in die Schranken bzw. in die Schmuddelecke gewiesen werden.
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Die Tatsache, dass der Gerichtsmediziner keinen Ruß in den Lungen von beiden, Böhnhardt und Mundlos, gefunden hat, wird also schon in der Abschnittsüberschrift deutlich berichtet. Dass das zunächst ein Indiz gegen die Brandlegung durch Mundlos ist, verschweigen die Autoren, bemühen sich aber um den Nachweis, dass der Brand vor dem Tod von Mundlos gelegt worden sei, auch wenn der Gerichtsmediziner diese Möglichkeit nur kurz und vage gestreift hat mit den Worten „könne er nicht ausschließen“.
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Es ist also eine sehr deutliche Parteinahme für die Selbstmord-These der Behörden im Bericht erkennbar, für deren Stützung dem Leser auch wesentliche Informationen vorenthalten werden. Dies kommt zum Beispiel bei der Diskussion der Schussverletzungen von Uwe Mundlos zum Tragen, denn die Schmauchspuren im Mund belegen zwar einen Mundschuss, aber nicht, wer diesen ausgeführt hat.
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Die SZ-Autoren folgern: „Offensichtlich hatte sich der Neonazi einen Mundschuss versetzt“. Daran ist nichts offensichtlich, solange die Hände des Toten nicht auf Schmauch untersucht worden sind.
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Vorenthalten wird dem Leser die wesentliche Information, dass der Gerichtsmediziner genau diese Untersuchung nicht durchgeführt hat, weil die Tatortgruppe des LKA das übernommen habe (vgl. dazu den entsprechenden Bericht der Thüringer Allgemeinen und den Bericht des Tagesspiegel vom 1.12.2011).
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Ende Teil 1.
Hat dies auf lotharhschulte rebloggt.